Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Rüdersdorf bei Berlin, den 29. 01. 2024

Rede der Bürgermeisterin, Sabine Löser, zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Kolonistenfriedhof Rüdersdorf am 27. Januar 2024

 

"Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwesende,

 

vielen Dank für die musikalische Einleitung durch Ilya Ananyin am Saxophon. 


Es freut mich, nein es bestärkt mich, dass am heutigen Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus mehr Menschen als in den letzten Jahren den Weg auf unseren Kolonistenfriedhof gefunden haben. Bereits in den letzten Jahren haben wir hier gemeinsam mit lokalen Künstlerinnen und Künstlern den Opfern gedacht und gleichsam mahnende Worte gefunden, wohin eine zunehmende Verrohung der Sprache führt, was passiert, wenn wir nicht mehr miteinander, sondern übereinander reden, wenn wir das Trennende und nicht das Einende betonen.


Wenn wir zu viel Raum lassen und nicht Aufbegehren gegen Hass und Hetze. Gegen menschenverachtende Fantasien und rechte Ideologien. 
 

Ganz bewusst haben wir daher unseren heutigen Gedenktag unter den Leitsatz des Philosophen Theodor W. Adorno gestellt, der sagte: „Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“


Neben den richtigen und wichtigen Demonstrationen die in den letzten Tagen nach den Enthüllungen der Recherche von Corrective.org stattfanden, ist es auch wichtig, am heutigen Tag in einem würdigen Rahmen der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. 


Es freut mich, dass neben Ilya Ananyin vom Rüdersdorfer TRS auch weitere lokale Akteure heute hierzu beitragen. Damit möchte ich die Kinder der AG Stolpersteine Linnea Birka, Jana Sterzer und Noah Daniel Ellermann vom Heinitzgymnasium begrüßen, die in der AG Stolpersteine unter Leitung von Herrn Knauke die gute Arbeit der letzten Jahre von Frau Franke fortsetzen. Die Kinder werden nun die Gedichte „Stolpersteine“ und „Stolpersteine erzählen“ vortragen und Rahmen damit den Beitrag von Renate Radoy ein. Frau Radoy trägt „Die letzte Epiphanie“ von Werner Bergengruen vor und wird vorab noch eine kurze Einleitung zum Verfasser geben. 
 

[Vortrag Gedichte der der AG Stolpersteine und Vortrag "Die Letzten Epiphanie" durch Renate Radoy]


Heute vor 80 Jahren, am 27. Januar 1944 gelang es der Roten Armee den deutschen Belagerungsring um Leningrad zu sprengen und das heutige St. Petersburg zu befreien. Damit endete eine fast 900 tägige Belagerung, die unermessliches Leid über die Menschen in der Stadt gebracht hatte. Ein Jahr später, kurz vor Kriegsende, wurde dann das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Zwei Ereignisse, die symbolisch für das unendlich Leid, den Terror und die systematische Vernichtung von Menschen stehen. 


Und 80 Jahre später trifft sich eine Mischung aus Vertretern der Identitären Bewegung, gewählten Abgeordneten aus Landtagsparlamenten und Funktionsträgern von Parteien in der Nähe von Potsdam um über menschenverachtende Pläne zu beraten. Wie sie Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen, vertreiben könnten. Und ebenfalls 80 Jahre später führt in allen ostdeutschen Bundesländern, mit Ausnahme von Berlin, eine Partei die Umfragen an, deren Landesverbände als gesichert rechtsextrem gelten und bei denen führende Köpfe gerichtlich bestätigt als Faschisten bezeichnet werden dürfen.


Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir nicht mehr still beobachtend an der Seite sitzen dürfen. Es gilt Aufzustehen und zu zeigen: „Das geht so nicht!“ 


Es ist ein hoher Wert in unserer Demokratie, miteinander in den Diskurs zu gehen. Zu streiten und sich Diskussionen zu stellen. Auch unbequeme Dinge auszusprechen oder beim Namen zu nennen, wenn etwas nicht gut läuft. Dabei müssen wir akzeptieren, dass Diskurs zur Lösungsfindung beiträgt und manchmal Kompromisse notwendig sind, um Dinge überhaupt voran zu bringen. 


Gleichsam müssen wir, mehr als je zuvor, achtsam sein und klare Stoppzeichen setzen. Wenn Menschen sich weit außerhalb des demokratischen Konsens stellen, den Holocaust leugnen oder auch nur relativieren, wenn menschenverachtende Ideologien und Weltbilder propagiert werden und als vermeintliche Problemlösungen aufgezeigt werden, dann gilt es dem Einhalt zu gebieten. 


Das ist eine Aufgabe, die uns alle etwas angeht. Ob wir in politischer Verantwortung sind oder nicht. Wir müssen zeigen wo wir stehen und was wir ausschließen. Wir sind mehr. 


Wir müssen dem Gift der Sprache der Rechtsextremisten entgegentreten. Victor Klemperer beschreibt die Wirkung der Sprache der Rechtsextremisten in seinem Buch LTI wie folgt: „[…] Sprache dichtet und denkt nicht für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. […] Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einer Zeit ist die Giftwirkung doch da.“


Umso wichtiger ist es, der seit Jahren zu beobachtenden Verrohung unserer Sprache entschieden entgegen zu treten. 


Wir sollten uns davor hüten, die Ideologien und die rechten Umtriebe abzutun oder zu verharmlosen. Die größte Bedrohung unserer Demokratie kommt von rechts. Die größte Chance gegen Rechts ist unsere Demokratie. Nutzen wir diese Chance.


Die Erinnerung hoch zu halten, zu mahnen und zu zeigen, wohin all das führen kann, das ist unsere moralische Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Und wenn wir Parallelen zu vor 100 Jahren beobachten, so tun wir gut daran uns nicht darauf zu verlassen, dass es schon gut gehen, nicht so schlimm kommen, wird. Das unsere demokratische Verfasstheit, anders als damals, stabil genug ist. Genau wie ein Deich grundsätzlich ein sehr stabiles und sicheres Bauwerk gegen Überflutungen ist, so muss er doch immer wieder gehegt, geflickt und gesichert werden. Und wenn die Angriffe der Fluten zu stark sind, muss er sogar zusätzlich stabilisiert werden. So verhält es sich auch mit unserer Demokratie. Grundsätzlich ist sie allein in der Lage Angriffen zu trotzen. Sie braucht aber Menschen, die sie pflegen, schützen und hegen. Und wenn die Angriffe zu stark werden, gilt es den Deich der Demokratie zusätzlich zu verstärken. Dafür braucht es alle demokratisch denkenden Menschen. Dabei ist es vollkommen egal, wie man zu einzelnen Themen wie Heizungsgesetzen, Windkraft, dem Gendern oder sonstigen Reizthemen steht. Es ist gut und richtig darüber in einen streitbaren Diskurs zu kommen. Wir dürfen aber vor lauter Streit nicht verpassen, immer wieder unseren Deich der Demokratie gegen diejenigen Kräfte zu stabilisieren, die ihn untergraben. 


Ich möchte zum Abschluss meiner Rede Siegfried Lenz zitieren, der anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 folgendes sagte: 
„So seltsam es klingen mag: Auschwitz bleibt uns anvertraut. Es gehört uns, so, wie uns die übrige eigene Geschichte gehört. Mit ihr in Frieden zu leben, ist eine Illusion; denn die Herausforderungen und die Heimsuchungen nehmen kein Ende. 
Schließlich haben wir es nicht mit der spirituellen Hinterlassenschaft von Hegels Weltgeist zu tun, sondern mit überlieferten unsagbaren Leiden. So ist zu fragen, ob es einen Frieden geben kann, in dem auch die Unversöhntheit einen Platz findet.

Ich glaube: ja. Der Friede, der uns entspricht, schließt Verstörungen durch das Gedächtnis nicht aus. Jedoch: Unversöhnt mit der Vergangenheit sind wir umso leidenschaftlicher für den Frieden.
Unversöhnt, geben wir der Vergangenheit, was wir ihr schulden, und der Gegenwart, was sie annehmbar macht.“

 

Lassen Sie uns nun bei einer neuerlichen Begleitung am Saxophon die Kränze niederlegen. 
Ich danke Ihnen für Ihr Kommen.